Auswege aus dem «Dark Procurement» – procure.ch

Auswege aus dem «Dark Procurement»

Publiziert am Autor: Herbert Ruile

Digitalisierung als Darth Vader des Einkaufs: Er eröffnet gleichzeitig Chancen einer strategischen Neupositionierung.

Nach zehn Jahren Industrie 4.0 ist der Trend zur Prozessautomatisierung und zum Shared Procurement Service ungebrochen. Gehen also beim Einkauf demnächst die Lichter aus? Die Digitalisierung bietet Chance und Notwendigkeit einer Neuorientierung.

Wenn man der Frage «Wo steht heute der Einkauf in der Digitalisierung?» nachgeht, ist damit unmittelbar auch die Frage nach seiner strategischen Bedeutung verknüpft. Denn die Digitalisierung ist kein Selbstzweck. 

Das Selbstverständnis des Einkaufs ist mit der Digitalisierung im Kern getroffen. Da die Digitalisierung eine mittelfristige Investition in die Zukunft bedeutet, sollte also eine kurze Reflexion über das Woher und Wohin im Einkauf angebracht und gestattet sein.

Vorgeschichte zur Industrie 4.0

Digitalisierung ist kein junges Phänomen. Es startete in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts mit den ersten Computern und der Einführung von MRP-Systemen. 

In diese Zeit fällt auch der Höhepunkt der Massenproduktion und die Marktöffnungen in Osteuropa und Asien. Ein zunehmender Exit des Einkaufs nach Asien und Osteuropa begann. Das Potenzial für neue Kunden und Kostensenkungen von 20 Prozent sollte nutzbar gemacht werden. Sowohl die Planungs- als auch die entsprechenden Kommunikationsmittel standen bald zur Verfügung und erleichterten den Aufbau globaler Wertschöpfungsnetzwerke. 

Wir erleben heute durch die Covidkrise die Herausforderungen, die sich aus diesen globalisierten Netzwerken ergeben. Transparenz und Steuerbarkeit sind infrage gestellt, die Euphorie des Aufbruchs ist einer neuen Realität gewichen: begrenzte Ressourcen und Nachhaltigkeit. Kaum noch jemand, der von Kostensenkung durch Globalisierung spricht. Tempi passati: Die Globalisierung zeigt ihre Grenzen.

Erwartungen an Industrie 4.0

Vor gut zehn Jahren stellte unter anderem auch der deutsche Physiker und ehemalige Chef von SAP, Henning Kagermann, die Idee von Industrie 4.0 vor. Charakteristisch war die starke individuelle Anpassung der Produkte unter den Bedingungen einer hoch flexibilisierten und vernetzten Massenproduktion. 

Industrie 4.0 steht für autonome Wertschöpfungssysteme mit intelligenter Selbstoptimierung, -konfiguration, -diagnose sowie -kognition. Sie ist die nutzenbringende Vernetzung von Menschen, Maschinen, Produkten, Systemen und Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette und über den Produktlebenszyklus. Industrie 4.0 verfolgt die Ziele Prozessoptimierung und Geschäftsmodellinnovation. 

Einkauf 4.0 

Karsten Vollrath, Rolf Jaus und ich begannen 2015 die Auswirkung von Industrie 4.0 auf die Arbeitswelt des Einkaufs im Rahmen einer ersten Arbeitsgruppe zu diskutieren. Ziel unserer Initiative war, die digitalen Transformation des Einkaufs unter dem Schirm der 4. industriellen Revolution zu unterstützen und zu begleiten. 

In den ersten Spurgruppen entstand ein Leitfaden, der heute in den Ausbildungskursen in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich verwendet wird. Dabei wird Einkauf 4.0 in drei Perspektiven verfolgt: a) die Einkaufsprozesse werden digitalisiert und automatisiert; b) die Digitalisierung wird benutzt, um eine stärkere interne und externe Vernetzung zu etablieren. Daten werden für ein vertieftes Verständnis von Produkt, Lieferant und Umfeld benutzt, um bessere Entscheide in der funktions- und betriebsübergreifenden Zusammenarbeit zu erzielen; und c) der Einkauf engagiert sich in der Entwicklung von Industrie 4.0-Geschäftsmodellen. Er innoviert sich dabei selbst, er definiert seine Rollen und Aufgaben neu im künftigen Geschäftsmodell (zum Beispiel Innovation Scout oder Kreislaufmanager).

In unserem Kursprogramm zum Chief Digital Procurement Manager (CDPM) haben wir knapp 100 Einkäufer in ihrer digitalen Transformation begleitet. Über 125 Teilnehmer haben sich einem Readiness Check unterzogen und so ihre Ausgangslage und ihr Entwicklungspotenzial identifiziert. Aus diesen Erfahrungen konnten wir mittlerweile einige Erkenntnisse gewinnen.

Erkenntnisse und Konsequenzen 

Der Mehrwert der Investitionen in Digitalisierung bleibt deutlich hinter den Erwartungen zurück. Die Senkung der Prozesskosten durch Automatisierung scheint nicht ausreichend zu sein. 

Der überwiegende Anteil von Digitalisierungsanstrengungen im Einkauf bezieht sich jedoch auf die Automatisierung von Source-to-Pay-Prozessen. Die jährlich erzielten Einsparungen bewegen sich im Mittel bei 0.2 Prozent (IPG/Jaggaer). Lösungen, die sich aus einer End-to-End-Vernetzung ergeben, sind eher selten. Eine End-to-End-Vernetzung und Geschäftsmodellinnovation bleiben die wichtigsten Optionen, obwohl hohe Widerstände zu überwinden sind (CDPM).

Aus den Erkenntnissen können wir folgende Schlüsse ziehen:

  1. Die Digitalisierung wird durch Automatisierung der Einkaufsprozesse den Personalbestand insbesondere im operativen Einkauf stark reduzieren. Die verfügbaren Personalressourcen im Einkauf schwinden. Der Weg zum «Dark Procurement» ist vorgezeichnet.
  2. Die Digitalisierung wird das Outsourcing von einfacheren Einkaufsprozessen erleichtern und stärker vorantreiben. Der verbleibende Rest des Einkaufs konzentriert sich auf komplexere Beschaffungsvorgänge. Die Anforderungen an Mitarbeitende zum Umgang mit Komplexität steigen. Bisherige Kompetenzen, Prozesse und Werkzeuge werden abgelöst, erweitert bzw. entwickelt.
  3. Der Wertbeitrag des Einkaufs zum Unternehmenserfolg verändert sich. Themen wie Transparenz, Compliance und Innovation gewinnen an Bedeutung. Das Selbstverständnis des Einkaufs wird sich auf eine Re-Positionierung von Kernkompetenzen und neuen Business-Services aufbauen. Die Digitalisierung wird für eine fortgeschrittene Datennutzung (Sammlung, Verknüpfung, Analyse, Entscheide, Dokumentation) eingesetzt. 

Unsere Erfahrungen in den Kursen und die aufgezeigten Entwicklungen deuten darauf hin, dass zum einen das Denken in ganzheitlichen Geschäftsmodellen eine der grössten Herausforderungen darstellt, zum anderen jedoch genau hierin das grösste Zukunftspotenzial für Unternehmen und den Einkauf zu finden ist. 

Die vordergründige Digitalisierung als Prozessautomatisierung wird abgelöst von einer, die sich an den veränderten Wert- und Leistungsbeiträgen des Einkaufs orientiert. Hierzu ist jedoch ein Umdenken notwendig, um letztendlich nicht im «Dark Procurement» oder in der Bedeutungslosigkeit zu enden. 

Herbert Ruile

Prof. Dr. Ing. Herbert Ruile ist Geschäftsführer von Logistikum Schweiz, einem Bildungs- und Forschungszentrum für Einkauf, Logistik und SCM in Altdorf.
 

Event

«10 Jahre Industrie 4.0: Was wurde erreicht? Wohin geht es?» Herbert Ruile und Carsten Vollrath halten eine kurze Rückschau und blicken voraus, und zwar am procure.ch Expert Talk vom 10. März 2022. 
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